protest.masse.ansteckung

Ansteckungsdenken zwischen autoritärer Eindämmung und ausbreitender Nachahmung

Abstract

Das Denken von Ansteckung ist stets mit Vorstellungen der Transformation verbunden, die entweder unter den Vorzeichen der Eindämmung oder der Ausbreitung stehen. Das haben die weltweiten Debatten um die gesellschaftlichen Herausforderungen und Auswirkungen der Covid19-Pandemie erneut eindrücklich vor Augen geführt. Doch was folgt daraus für die Anwendung von Vorstellungen der Ansteckung als Modell sozialen Handelns? Dieser Frage soll mit einem beispielhaften Rückblick auf historische Überlegungen zur versammelten Menschenmenge als „Masse“ nachgegangen werden. Dabei stehen die Gedanken von Gustave Le Bon exemplarisch für ein Paradigma der autoritären Eindämmung von einem als ansteckend markierten Sozialverhalten. Demgegenüber konzipiert Gabriel Tarde Ansteckung als Form nachahmenden Handelns, dessen performativen Ausbreitung als geteilte Praxis intersubjektive Beziehung schaffen kann. Die historischen Begriffsbestimmungen wirken sich bis heute auf Vorstellungen sozialen Handelns im Allgemeinen und auf das Bild von Praktiken der Versammlung im Besonderen aus. Dies zeigen zwei ausgewählte Protestformate, die aufgrund ihres ansteckenden Charakters für unterschiedliche Transformationsdynamiken während des ersten Corona-Lockdowns in der Bundesrepublik standen. Dabei handelt es sich um den polizeilichen Umgang mit einer Versammlung der Kampagne „Seebrücke“ im Frühjahr 2020 in Frankfurt am Main sowie um die bundesweit verbreitete Praxis der Gabenzäune. Indem Ansteckung als Motor einer möglicherweise dauerhaften Transformation sozialen Handelns gedacht wird, scheint das politische Potential der entsprechenden Vorstellungen auf. Die Möglichkeiten zur Verklammerung von Ansteckungsdenken mit Konzepten eines politischen Aktivismus illustriert ein abschließendes Beispiel vom anarchistischen CrimethInc.-Kollektiv.