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  • Auftrittsmöglichkeiten. Aspekte eines „postinklusiven“ Theaters

    Editorial

    Jörn Etzold, Martin Jörg Schäfer

    Die zehnte Ausgabe von Thewis, der Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (gtw) ist dem Gegenwartstheater im deutschsprachigen Raum gewidmet und in erster Linie im Laufe des Jahres 2021 konzipiert worden und entstanden. Für die szenischen Künste stand dieses Jahr im Zeichen von Hygieneplänen, Schließungen, gestreamten Aufführungen, zaghaften Wiedereröffnungen mit Abstandsregeln und Ausweiskontrollen, pandemiebedingten Verschiebungen und Absagen, aber auch Premierenstaus. In der Freien Szene gab es eine überraschend hohe und teilweise sogar auskömmliche Notstandsfinanzierung, die angesichts der sonstigen Einschränkungen zu Proben- und Aufführungsraummangel führte – und deren postpandemisches Wegbrechen nunmehr ansteht. Vor diesem Hintergrund stellen sich auch bekannte Fragen neu: Wer sich nicht ausweisen konnte, durfte nicht Teil des Publikums werden. Wessen Biographie nicht an das vorherrschende Verständnis von (national tätigen) Kunstschaffen anzudocken war, hatte höchst eingeschränkt die Möglichkeit zum Beantragen von Nothilfen. Auf einer sehr basalen Ebene zeigten sich hier die Problematiken von aktiver Mitgestaltung und ‚Diversität‘, wie sie in letzter Zeit gesamtgesellschaftlich diskutiert und nicht nur im deutschsprachigen Stadttheaterbetrieb und in der Freien Szene ausgehandelt werden, sondern nicht zuletzt in der Wissenschaft: bezüglich ihrer eigenen Beteiligungsstrukturen, bezüglich ihrer Fragen und Themen.

    Die vorliegende Ausgabe nimmt diese Impulse für den wissenschaftlichen Blick auf das Gegenwartstheater mit den Begriffen ‚Auftrittsmöglichkeiten‘ und ‚Postinklusion‘ auf. In der Tradition von Thewis ist die Ausgabe vorrangig von (noch) nicht arrivierten Positionen her bespielt und gestaltet worden: Neben zwei professoralen Beiträgen aus dem Entstehungszusammenhang aller Texte im Rahmen einer Online-Tagung handelt sich um Artikel von Hamburger Studierenden und Promovierenden, von denen einige mit einem oder anderthalb Beinen in der Theaterpraxis stehen. Den thematischen Einsatz beziehen sie auf ihre Interessen, ihre Forschungsarbeit und auch ihre Praxis, wodurch auch inzwischen arrivierte Positionen des Theaters des 21. Jahrhunderts eine verschobene und manchmal schlicht andere Perspektivierung erfahren. Für die inhaltliche Redaktion waren die Promovierenden Tobias Funke und Mirjam Groll unterstützt von Martin Jörg Schäfer verantwortlich; auch die Unterstützung der Studierenden Sophia Koutrakos und Philipp Just ging in Vielem deutlich über die formale Redaktion hinaus. Wir bedanken uns herzlich bei allen Beteiligten! 

    Zusätzlich zu den Texten des Schwerpunkts findet sich in dieser Ausgabe eine Rezension von Ulrike Haß‘ 2020 erschienenem Buch Kraftfeld Chor, verfasst von Nikolaus Müller-Schöll.

    In Vorbereitung befindet sich eine Ausgabe zum „Kuratieren als soziale Praxis“, die aus einer Berner Tagung im Rahmen der Reihe „itw : im dialog“ hervorgeht. 

     Wir wünschen eine anregende Lektüre!

    Bochum und Hamburg, im September 2022

    Jörn Etzold, Martin Jörg Schäfer

     

    Impressum
    Herausgeber und Redaktion Thewis (2022):
    Prof. Dr. Jörn Etzold (Bochum)
    Prof. Dr. Martin Jörg Schäfer (Hamburg)

    Herausgeber*innen und Redaktion des Themenschwerpunktes „Auftrittsmöglichkeiten – Aspekte eines ‚postinklusiven‘ Theaters“:

    Tobias Funke, MA
    Mirjam Groll, MEd
    Philipp Just, BA
    Sophia Koutrakos, MA
    Prof. Dr. Martin Jörg Schäfer

    Verantwortlich i.S.d.P. für die aktuelle Ausgabe:
    Prof. Dr. Jörn Etzold
    Institut für Theaterwissenschaft
    Ruhr-Universität Bochum
    Universitätsstraße 150
    44780 Bochum

  • Zwischenstand 2020: Was heißt es, sich im Forschungsfeld Theaterwissenschaft zu orientieren?

    Editorial

    Die letzte Ausgabe von Thewis erschien zu einem Zeitpunkt, an dem die Zukunft digitaler und allen zugänglicher Publikationsformen – und seien sie auch dem Theater gewidmet – sicherer erschien als jene des Theaters selbst, Ort der Vermischung und der Ansteckung, aber nicht der Heilung; zumindest nicht der medizinischen. Auch die nun vorliegende, neunte Ausgabe des Online-Journals der Gesellschaft für Theaterwissenschaft trägt, obwohl sie inmitten von Festivals, Premieren, Workshops und Tagungen erscheint, zu einer Zeit, in der die Uni-Campi wieder voll Leben sind, noch die Spuren der planetarischen Pandemie in sich, die sicherlich noch nicht vorüber ist, sich aber, angesichts zunehmender Immunisierung der Bevölkerung, abzuschwächen scheint, hoffentlich dauerhaft. Der vom Vorstand der Gesellschaft für Theaterwissenschaft herausgegebene Thementeil versammelt die Beiträge von Wissenschaftler*innen in der frühen Berufsphase, die ursprünglich beim für 2020 geplanten, dann ins Jahr 2021 verschobenen und letztlich doch abgesagten Treffen der Arbeitsgruppen der GTW in Bern vorgetragen werden sollten und nun – endlich – auf diese Weise die Öffentlichkeit erreichen.

    Wir hoffen, dass die Leser*innen auch in der neuen und nur scheinbar altbekannten Lage die Ruhe finden werden, die Ausgabe zu lesen – vielleicht im Zug, vielleicht in einem Café, vielleicht auch einfach im Büro oder daheim. Die neue Situation bringt vielfältige Gesten und Sprechweisen hervor: Wir sehen Menschen das erste Mal, die wir nur als Bild kannten, wir erkennen die aus dem digitalen Raum vertrauten Gesichter hinter den Masken nicht. Und in Leichtigkeit und Euphorie, in Schwindel, Überforderung und Erschöpfung mischen sich immer wieder andere Gefühle: die Hilflosigkeit angesichts des brutalen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine, vielleicht ein schlechtes Gewissen über die recht unbeschwerte Rückkehr in den sonnigen mitteleuropäischen Alltag; die vage Ahnung, dass auch unser Frieden ein fragiler sein kann und unser Wohlstand erkauft ist durch einen in die multiplen Peripherien ausgelagerten Extraktivismus. Der Krieg gegen die Ukraine, der in jeder Hinsicht zu verurteilen ist, ist dabei keineswegs der einzige Krieg in diesem Moment auf diesem Planeten. Doch er ähnelt dem pandemischen Geschehen dadurch, dass Zustände, die wir Europäer für eine lange Zeit nur aus der Ferne zu kennen glaubten, nun näher rücken. Wir hoffen, dass in die bewundernswerte und notwendige Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine und mit den Menschen, die mutig oder angsterfüllt (oder beides) in ihrem Land bleiben, auch die vielen anderen Herumirrenden, Rechtlosen, Ausgeschlossenen einbezogen werden mögen, die zu dieser Stunde unter anderem auf Samos, Lesbos, Kos, Chios und Leros auf eine menschenwürdige Aufnahme in die Europäische Union warten. Eine Diskriminierung in Flüchtlinge erster und zweiter (und dritter) Klasse, sortiert nach geostrategischen Interessen, ist der historischen Verantwortung, die sich aus der deutschen und, auf verschiedene Weise, auch aus anderen europäischen Gewaltgeschichten ergibt,
    keinesfalls angemessen.

    Diese Ausgabe von Thewis ist die erste, die im neuen Open-Journal-Format erscheint, und wir danken Franziska Voß und Julia Beck vom Fachinformationsdienst Darstellende Kunst sehr herzlich für die sorgfältige Umsetzung dieser Umstellung und die in jeder Hinsicht großzügige Begleitung dieses Vorgangs. In diesem Zusammenhang danken wir auch dem Vorstand der GTW für die Unterstützung. Mit der Umstellung haben wir eine kleine Veränderung in der Struktur der Zeitschrift vorgenommen: Die Rubrik „Miszellen“ wurde durch die Rubrik „Essay“ ersetzt, um neben kürzeren Beobachtungen auch längeren Texten ein Forum bieten zu können. Der erste Beitrag zu dieser neuen Rubrik ist ein Aufsatz von Andreas Kotte, der von 1992 bis 2020 das Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern leitete. Wir freuen uns sehr, dass Herr Kotte den Text, der durchaus als ein provisorisches Fazit seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Rolle von Theater im Medienwandel verstanden werden kann, unserer Zeitschrift anvertraut hat. Laura Stracks Rezension von Rasmus Nordholt-Frielings Musikalische Relationen schließt diese Ausgabe ab. Wir wünschen anregende Lektüre!

     

    Bochum und Hamburg, im Mai 2022

    Jörn Etzold und Martin Jörg Schäfer